Cover
Titel
Der Schwarzenbacheffekt. Wenn Abstimmungen Menschen traumatisieren und politisieren


Herausgeber
Falk, Francesca
Erschienen
Zürich 2022: Limmat Verlag
Anzahl Seiten
128 S.
von
Marino Ferri, Departement Geschichte, Universität Basel

Die politische Signifikanz und der lange Nachhall der Schwarzenbach-Initiative von 1970 sind hinlänglich bekannt und gut untersucht. Sie stehen gerade deshalb nicht im Mittelpunkt des schmalen Bändchens Der Schwarzenbacheffekt, das die Historikerin Francesca Falk herausgegeben hat. Die Beiträge fokussieren stattdessen auf die von der Initiative feindselig Adressierten – die Ausländer:innen, die Gastarbeiter:innen, ganz speziell die Italiener:innen. Wie haben die Volksabstimmung und ihr gehässiges Drumherum, medial angeleitet von Namensgeber James Schwarzenbach, Ausländer:innen in der Schweiz diskriminiert, traumatisiert und vor allem auch politisiert?

Den Kern des Buches bilden neun Personenportraits, die von Falks Studierenden an der Universität Bern auf der Basis von lebensgeschichtlichen Interviews erarbeitet wurden. Gerahmt werden die Profile auf der einen Seite von einer Einleitung (Francesca Falk) und einem historisch kontextualisierenden Beitrag (Cenk Akdoganbulut), auf der anderen von drei gegenwärtigen intellektuellen Stimmen (Melinda Nadj Abonji, Jelica Popović, Fatima Moumouni). Das Format ist innovativ und wird dem Anspruch der Oral History, neue Quellen zu produzieren, insofern gerecht als die Audiospuren der ganzen Interviews auf der Website www.oral-history-archiv.ch frei verfügbar sind. Zudem setzt der Band die begrüssenswerte Tradition studentischer Sammelbände fort, die zuletzt etwa durch die Reihe Æther des intercom-Verlags Auftrieb erhielt und für migrationsgeschichtliche Forschung in der Schweiz besonders prominente Vorbilder hat – namentlich etwa die Bände Zuflucht Schweiz und Asyl und Aufenthalt von Carsten Goehrke, Werner G. Zimmermann und anderen (1994).

In seinem Beitrag verortet Akdoganbulut den Überfremdungsdiskurs der Schwarzenbach-Initiative in grösseren politischen und ideengeschichtlichen Kontexten. Gleichzeitig weitet er bereits den Blick auf den «migrantischen Widerstand», der sich in Organisationen wie der «Federazione delle Colonie Libere Italiane in Svizzera» zu formieren begann. Leider bleiben diese Ausführungen eher rudimentär. Angesichts des Stellenwerts, den die politische Meinungsbildung der Migrant:innen hier spielen sollte, wäre etwas mehr Substanz wünschenswert gewesen. Dasselbe gilt für die kontextualisierenden Passagen in den Personenportraits, die ohne ergänzende Literaturverweise präsentiert werden. Das sind geringfügige Makel an einem Buch, das pointiert eine Botschaft transportiert.

Wie Francesca Falk einleitend schreibt, handelt dieses Buch auch davon, dass die Schweiz gerade «durch Migration zu dem Land geworden [sei], das sie heute ist» (S. 17f.). Die neun Portraits bringen uns Menschen nahe, die dazu beigetragen haben. Vorgestellt werden sieben Personen mit italienischem sowie je eine mit spanischem bzw. ungarischem Hintergrund. Während letztere eine Art Gegengewicht darstellt – die ungarischen Flüchtlinge wurden 1956 mit präzedenzlosem Wohlwollen aufgenommen –, repräsentieren die übrigen acht jene Personengruppen, die im Fokus der xenophoben Rhetorik der «Überfremdungsgegner» standen. Die Portraits geben Auskunft über den Alltag der Ausländer:innen in der Schweiz der 1950er- bis 1970er-Jahre und ermöglichen vielfältige Einblicke in deren prekäre Situation, die sich gerade im Vorfeld der Schwarzenbach-Abstimmung am 7. Juni 1970 für viele als Provisorium anfühlte; als Leben im Bewusstsein, dass man womöglich innert kürzester Zeit die Koffer packen und gehen muss.

In manchen Portraits entsteht mithin der Eindruck, die Autor:innen seien allzu fokussiert darauf gewesen, den Befragten Rassismus- und Alteritätserfahrungen zu entlocken. Dies sind zweifellos gewichtige Anliegen, die neue Erkenntnisse über die gesellschaftlichen Vor- und Nachwirkungen der Schwarzenbach-Initiative generieren. Allerdings rückt dadurch die Frage nach den konkreten Praktiken der Politisierung und der im weitesten Sinne politischen Tätigkeit der Migrant:innen manchmal in den Hintergrund. Gerade hierin aber scheint mir das grösste geschichtswissenschaftliche Potenzial zu liegen. Wenn etwa der ehemalige Präsident der «Federazione», Guglielmo Grossi, erzählt, er habe in Zusammenarbeit mit einem schweizerischen Institut für Erwachsenenbildung Abendkurse für Italiener:innen gegeben, die nicht alphabetisiert waren oder die reguläre Schulzeit nicht abgeschlossen hatten, scheint ein sozialgeschichtlich hochinteressanter «Schwarzenbacheffekt» auf, der weit über die Initiative hinausweist. Gleichwohl ist es ein Verdienst dieses Bandes, immer wieder solche Details freizulegen und damit der künftigen Forschung neue Pisten zu eröffnen.

Als besonders gelungen empfinde ich die Idee, das Buch mit drei Kurztexten von Autorinnen mit Migrationsbiographie abzurunden. Die Texte der Buchpreisgewinnerin Melinda Nadj Abonji und der Übersetzerin Jelica Popović korrespondieren miteinander. Nadj Abonjis Text Überfremd thematisiert eine Spaltung in ihrer Familiengeschichte: Die Eltern kamen 1969 in die Schweiz, die Kinder 1972. Dazwischen: die Schwarzenbach-Initiative und die «unüberwindbare Wand» bürokratischer Sprache und Praxis. Popović, die 1988 in die Schweiz gekommen ist, nimmt Nadj Abonjis Text als Folie, um ihrer eigenen Geschichte nachzuspüren und zu fragen: Wie und wie lange wirkte Schwarzenbach nach? Vielleicht bis in die Gegenwart? Hier setzt Fatima Moumounis Nachwort an. Mit anekdotischer Evidenz legt sie die Doppelmoral schweizerischer Sauberkeits-Obsessionen offen, um zu konstatieren: «Die Schweiz ist hilflos ohne ihre Migrant:innen»! Es ist erfrischend und bereichernd in einem so schlanken Band eine so grosse Bandbreite an Textgattungen anzutreffen, die sich, zugespitzt auf das titelgebende Thema, zu einem stimmigen und innovativen Werk fügen. Zweifellos vermag es der migrationsgeschichtlichen Forschung neue Impulse zu verleihen.

Zitierweise:
Ferri, Marino: Rezension zu: Falk, Francesca (Hg.): Der Schwarzenbacheffekt. Wenn Abstimmungen Menschen traumatisieren und politisieren, Zürich 2022. Zuerst erschienen in: Schweizerische Zeitschrift für Geschichte 73(1), 2023, S. 99-100. Online: <https://doi.org/10.24894/2296-6013.00120>.